Meinung

Können dekadente Eliten bei ihren sündigen Treffen in Davos die Probleme dieser Welt lösen?

Für viele repräsentiert das WEF alles, was mit der Welt derzeit nicht stimmt, und ist zum Gegenstand aller Arten von Unzufriedenheit geworden. Heutzutage erfährt man aus Davos kaum noch nuancierte und kreative Lösungen – und auch seriöse Diplomatie trifft man dort nicht mehr an.
Können dekadente Eliten bei ihren sündigen Treffen in Davos die Probleme dieser Welt lösen?Quelle: Gettyimages.ru

Von Henry Johnston

In seinem bahnbrechenden Roman "Der Zauberberg" präsentiert Thomas Mann ein Tuberkulose-Sanatorium, hoch oben in den Schweizer Alpen, als Sinnbild der bürgerlichen Gesellschaft Europas am Vorabend der gewaltsamen Umwälzungen des Ersten Weltkriegs. Diese Woche fand in derselben Stadt Davos, die das epische Werk von Thomas Mann inspirierte, das alljährliche Weltwirtschaftsforum WEF statt.

Ich bin nicht der Erste, der diese Parallele zieht. Tatsächlich traf der Gründer des WEF Klaus Schwab selbst seine Entscheidung, die Veranstaltung in Davos auszurichten, in dem Bewusstsein einer symbolischen Verbindung zum Roman von Thomas Mann. In einem Artikel des US-Magazins TIME aus dem Jahr 1981 mit dem Titel "The Magic Meeting Place" (Der magische Treffpunkt), wurde das Außergewöhnliche des beschaulichen Städtchens hervorgehoben, was Wirtschaftsmagnaten und führende Politiker dazu bringt, sich dort zusammenzufinden, sich zu entspannen und einmal offen miteinander zu debattieren. Offenbar war Schwab auf der Suche nach solch einer befreienden Umgebung, wie er sie sich für sachliche und lebhafte Diskussionen vorgestellt hatte.

Heutzutage ist ein Verweis auf den Roman von Thomas Mann so angebracht wie eh und je – aber kaum noch mit den lobenden Worten, die im Artikel in Time von 1981 verwendet wurden. Wenn der Roman von Thomas Mann eine Momentaufnahme Europas darstellt, während es auf einen verheerenden Krieg zusteuert, ist aber das, was "Davos" dank dem WEF heute darstellt, wieder ein ähnlich allegorisches Porträt einer untergehenden Gesellschaft.

Genauso abgeschieden wie Manns Sanatorium in den Schweizer Bergen und mit mehr als einem Anflug von Endzeit-Exzess – ganz zu schweigen von einem unerträglichen messianischen Eifer – sind die zeitgenössischen Davos-Treffen jener Ort, an dem eine weltfremde globale Elite genau dasselbe anstrebt – und zwar mittels einiger Verhaltensweisen, die dazu geführt haben, dass die Massen den abwertenden Begriff "Davoser" verwenden. Die Heuchelei dieser Lenker unserer Welt, die mit einem Privatjet in Davos ankommen, um sich über die Notwendigkeit der Reduzierung der CO₂-Emissionen zu äußern, birgt Potenzial für jede Menge hämischen Zynismus in sich. Dasselbe gilt für die völlig ausgebuchten "Begleitdienste" durch attraktive Damen und die mit Kokain angeheizten "Bunga-Bunga-Partys". Für viele repräsentiert Davos alles, was mit der Welt derzeit nicht stimmt, und ist so etwas wie ein Sandsack für alle Arten von Ängsten geworden, auf den man einschlagen kann.

Aber was Davos wirklich bedeutet, reicht viel tiefer.

Der Historiker Arnold Toynbee, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts, entwickelte als eine seiner zentralen Thesen die Idee, dass das, was eine Zivilisation umbringt, die Spaltung zwischen ihrer Führung – die nicht nur die Herrscher, sondern die gesamte Elite umfasst – und allen übrigen Menschen ist. In einer aufstrebenden Zivilisation stellt die Führung noch das dar, was er eine "kreative Minderheit" nennt. Gemeint ist eine kleine Kohorte – und nicht etwa eine Rassenminderheit –, die sich den Respekt der von ihr geführten Menschen dadurch verdient hat, dass sie auf Probleme reagiert und tatsächlich funktionierende Lösungen anbieten kann und dann auch umsetzt.

Der wirkliche Niedergang setzt jedoch dann ein, wenn die lebenswichtigen Energien einer Zivilisation erschöpft sind, die Eliten aufhören, innovativ zu sein, und keine kreativen Antworten mehr auf echte Probleme anbieten können. Stattdessen verwandeln sich diese Elite dann in eine despotische Minderheit, die lediglich immer und immer wieder und noch energischer darauf beharrt, dass die von ihr bevorzugten Lösungen umgesetzt werden müssen, obwohl es immer offensichtlicher wird, dass diese nicht funktionieren. "Eine kreative Minderheit degeneriert zu einer dominanten Minderheit, die versucht, mit Gewalt eine Position zu behaupten, die sie nicht mehr verdient", schrieb Toynbee.

Man muss vorsichtig sein, wenn man eine so weit gefasste Verallgemeinerung der Geschichte zu wörtlich nimmt. Aber Toynbee blickte natürlich auf einen weit größeren Horizont als die Entstehung und Entwicklung des heutigen WEF. Es steht dennoch außer Frage, dass die Analyse von Toynbee bei der Beobachtung der heutigen westlichen Eliten – insbesondere in ihrer konzentriertesten Erscheinung in Davos – einen Nerv getroffen hat.

Die Entstehung und Entwicklung des WEF scheint die umfassende Darstellung Toynbees von einstigem Aufstieg zum kulturellen Niedergangs praktisch nachzuahmen. Ursprünglich unter dem ausgesprochen unprätentiösen Titel "Europäisches Management-Symposium" im Jahr 1971 abgehalten, begann das Treffen als ernsthafte und nüchterne Angelegenheit, die darauf abzielte, namhafte Wirtschaftsführer zusammenzubringen, um kreative Lösungen für verschiedene Probleme zu erörtern. Das WEF wuchs schließlich über sein ursprüngliches Format hinaus und wurde 1987 in Weltwirtschaftsforum umbenannt. Das neu gestaltete Forum konnte tatsächlich eine Reihe ernsthafter inhaltlicher Erfolge verbuchen, nämlich etwa diplomatische Gespräche zwischen der Türkei und Griechenland im Jahr 1988 oder ein Treffen zwischen dem südafrikanischen Apartheid-Führer Frederik Willem de Klerk und Nelson Mandela im Jahr 1992.

Heutzutage hört man aus Davos allerdings kaum noch von nuancierten oder kreativen Lösungen. Seriöse Diplomatie trifft sich dort auch nicht mehr. Vielmehr entsteht ein vorhersehbarer Trommelwirbel klischeehafter Gesprächsthemen, die jedes Jahr ungefähr dasselbe Gebiet abdecken: stets eine Kombination aus wirtschaftlicher Integration, Dekarbonisierung, Gleichheit der Geschlechter, Armutsbekämpfung und technologischer Entwicklung. Wenn es in den vergangenen Jahren so etwas wie ein Gegengewicht in Form der Betonung des "Wiederaufbaus von Vertrauen" gab, dann nur deshalb, weil die Unzufriedenheit der Massen, wenn auch nur zögerlich, bis in die glitzernden Cocktailbars von Davos vorgedrungen ist.

Wie das Magazin Vanity Fair im vergangenen Jahr mit einem scharfsinnigen Artikel betonte, hat Schwab mittlerweile "das Forum von einem ernsthaften Treffen politischer Experten zu einer glitzernden Versammlung der reichsten Menschen der Welt entwickelt".

Im Artikel heißt es weiter: "Die Kernaktivitäten des Forums – die nüchternen Reden und Podiumsdiskussionen – wurden lange Zeit von außerplanmäßigen Veranstaltungen in den Schatten gestellt, die Davos am Rande seiner offiziellen Schirmherrschaft dominieren: Von den Cocktailpartys und Banketten, die von globalen Banken und Technologieunternehmen veranstaltet werden." Die Teilnehmer solcher alternativen Veranstaltungen "rühmen sich, an null Podiumsdiskussionen teilgenommen zu haben und nie einen Fuß in die Haupthalle gesetzt zu haben – ein zynisches Zeichen von Raffinesse –, während sie gleichzeitig Einladungen zu berüchtigten Abendgesellschaften voller privilegierter Ausschweifungen wahrnehmen".

Die allmähliche Verwandlung des Forums in eine Veranstaltung, nur um zu sehen und gesehen zu werden, fiel eng mit einem wachsenden Mangel an Vertrauen in die globale Elite zusammen sowie mit der wachsenden Einsicht, dass genau diese (dort versammelten) Eliten die Angelegenheiten der Welt steuern.

Der Roman "Der Zauberberg" endet mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Als der Protagonist des Romans nach sieben Jahren auf dem Berghof endlich in die Welt unterhalb seines Zauberbergs zurückkehrt, landet er mitten im Krieg – und damit in einer Welt, die er während seines langen Aufenthalts sorgsam gemieden hatte. Das ist ein eindringliches Bild.

Wenn es in unserer Mitte einen neuen Thomas Mann gäbe, könnten zukünftige Generationen eine gewisse Unterhaltung finden in dem bissigen Porträt dieser sklerotischen und abgehobenen herrschenden Elite, welche die dieselbe herrliche Luft atmet und auf dieselben imposanten Alpen blickt, wie sie der deutsche Romancier einhundert Jahre zuvor beschrieben hat, bevor sie dann in das Chaos hinabsteigt, an dessen Entstehung sie selbst so großen Anteil hatte.

Übersetzt aus dem Englischen

Henry Johnston ist Redakteur bei RT. Er war überdies ein Jahrzehnt im Finanzwesen tätig.

Mehr zum Thema"Scheiß' auf den kleinen Mann" – Elon Musks Chatbot entlarvt WEF-Chef Klaus Schwab

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.