Deutschland

Geplante Wahlrechtsreform: Scharfe Kritik von Experten und Opposition

Der Bundestag berät am Donnerstag über eine Änderung des Wahlrechts. Ein weiteres Anwachsen des Parlaments soll verhindert werden. Sollten CDU/CSU und SPD ihren Entwurf durchdrücken, wäre wohl nicht viel gewonnen. Das sagt nicht nur die Opposition.
Geplante Wahlrechtsreform: Scharfe Kritik von Experten und OppositionQuelle: www.globallookpress.com © Bernd von Jutrczenka / dpa

Seit Jahren streiten die Parteien über eine Wahlrechtsreform. Nun stehen heute im Bundestag der Gesetzentwurf von CDU/CSU und SPD, ein gemeinsamer Gesetzentwurf von FDP, Grünen und Linken sowie ein Entwurf der AfD zur Abstimmung. Die Große Koalition will nun mit ihrer Mehrheit im Bundestag ihren Entwurf durchdrücken. Doch daran gibt es Kritik sowohl von der Opposition als auch von Experten.

Ohne Reform wird weiteres Anwachsen auf mehr als 800 Abgeordnete befürchtet

Die Wahlrechtsreform soll eigentlich verhindern, dass der Bundestag bei der Wahl im Herbst 2021 nochmals größer wird. Mit 709 Abgeordneten hat er schon jetzt ein Rekordausmaß erreicht. Die Normgröße sind 598 Abgeordnete. Ohne eine Reform wird ein weiteres Anwachsen auf möglicherweise mehr als 800 Abgeordnete befürchtet. Im Bundestag herrscht weitgehend Einigkeit, dass dies die Arbeitsfähigkeit des Parlaments beeinträchtigen würde. Außerdem würden dadurch die Kosten steigen.

Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags bescheinigte der Wahlrechtsreform der Großen Koalition eine nur geringe Wirkung hinsichtlich einer Verkleinerung des Parlaments. Bezogen auf das Ergebnis der Bundestagswahl 2017 wäre damit eine Absenkung der Gesamtsitze auf bis zu 682 Abgeordnete möglich gewesen, heißt es in der Ausarbeitung. Die Regelungen hätten also "eine Ersparnis von bis zu 27 Abgeordneten gebracht".

Der Wissenschaftliche Dienst weist in seiner Ausarbeitung jedoch darauf hin, dass der Effekt des negativen Stimmgewichts eintreten kann. Dieses war vom Bundesverfassungsgericht bereits früher für verfassungswidrig erklärt worden. Bei diesem Effekt kann eine Partei Mandate verlieren, obwohl sie Stimmen gewonnen hat. Oder sie kann trotz eines Stimmen-Minus ein Mandats-Plus erzielen.

Nach dem Koalitionsentwurf soll es bei der Wahl in einem Jahr bei der Zahl von 299 Wahlkreisen bleiben. Überhangmandate einer Partei sollen teilweise mit ihren Listenmandaten verrechnet werden. Und beim Überschreiten der Regelgröße von 598 Sitzen sollen bis zu drei Überhangmandate nicht durch Ausgleichsmandate kompensiert werden.

Experten: Geplante Reform für Mehrheit der Bürger kaum noch zu verstehen

Bei einer Anhörung am Montag im Bundestag hatten mehrere Experten kaum ein gutes Haar an dem Entwurf gelassen. Der Vorschlag von Union und SPD sei nicht dazu angetan, einen weiteren Anstieg der Zahl der Bundestagsabgeordneten zu verhindern, stellten Juristen und Politikwissenschaftler im Innenausschuss einhellig fest. Dies war aber ausdrückliches Ziel des Reformvorhabens gewesen. Außerdem würde das Wahlrecht durch die geplante Reform noch komplexer und wäre damit für die überwiegende Mehrheit der Bürger kaum noch zu verstehen, so die Kritik der Experten.

Robert Vehrkamp von der Bertelsmann Stiftung rechnete vor, dass der Entwurf der Regierungsparteien auf Grundlage der Ergebnisse von Wählerumfragen von Mitte September –  je nach Splittingverhalten der Bürger – zu einer Bundestagsgröße von bis zu 750 Mandaten führen würde. Von "Stimmensplitting" spricht man, wenn ein Wähler mit seiner Erststimme den Kandidaten einer Partei wählt, der nicht für die mit der Zweitstimme gewählte Partei antritt.

FDP-Innenpolitiker: Gesetzentwurf von Union und SPD ein Schuss in den Ofen

FDP, Grüne und Linke waren zuletzt mit einem gemeinsamen Gesetzentwurf für eine Wahlrechtsreform gescheitert, die eine Reduzierung der Wahlkreise von derzeit 299 auf 250 vorsieht. Der Entwurf von Union und SPD sieht eine Reduzierung auf 280 Wahlkreise vor – allerdings noch nicht bei der nächsten Bundestagswahl, sondern erst ab Januar 2024.

Der FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle sagte der Deutschen Presse-Agentur mit Blick auf diese Analyse:

Der Gesetzentwurf von Union und SPD zur Reform des Bundestagswahlrechts ist ein Schuss in den Ofen.

Er sei objektiv ungeeignet, den Bundestag zu verkleinern. Für Bürgerinnen und Bürger und selbst für Wahlrechtsexperten sei er unverständlich. Er werfe verfassungsrechtliche Fragen auf.

Und er soll in einem Verfahren durchs Parlament gedrückt werden, bei dem die Oppositionsfraktionen entgegen der guten Sitten nicht eingebunden werden.

Auch andere Wissenschaftler üben deutliche Kritik. Der Wahlrechtsexperte Christian Hesse von der Uni Stuttgart sprach von einer "Fehlkonstruktion". Er sagte der Deutschen Presse-Agentur:

Berechnungen auf der Grundlage dieses Modells und der aktuellen Stärkeverhältnisse der Parteien zeigen, dass der Bundestag höchstwahrscheinlich sogar um mehr als 100 Sitze größer wäre als der aktuelle, wenn jetzt gewählt würde.

Auch das Vorgehen der Koalition sei hochproblematisch. "Das vollständige Ignorieren aller wissenschaftlichen Analysen der desaströsen Schwächen dieses Reformmodells weist fast Trump'sche Züge auf." Hesse legte selbst ein Modell vor, das nach seinen Angaben von allen Beteiligten jeweils nur kleine Kompromissschritte erfordern würde. "Dafür ist es immer noch nicht zu spät", versicherte er.

Der Gesetzentwurf sei auf ganzer Linie als gescheitert zu betrachten, urteilte der Politikprofessor Joachim Behnke. 

CDU und CSU blockierten über Jahre hinweg alle Reformversuche

Dass die geplanten Änderungen am Wahlrecht erst jetzt kommen, dürfte vor allem an zwei Parteien liegen – CDU und CSU. Beide Parteien lehnten es bis vor Kurzem kategorisch ab, die Zahl der Wahlkreise zu verringern. Damit blockierten sie über Jahre hinweg alle Reformversuche. Dabei sagt der Mathematiker Hesse:

Die effektivste Maßnahme zur Verkleinerung des Bundestags ist tatsächlich die Verringerung der Zahl der Wahlkreise.

Doch ein Blick etwa auf das Wahlergebnis von 2017 könnte vielleicht erklären, warum die Reform erst jetzt kommt. Die CSU zog mit 46 Abgeordneten in den Bundestag ein – alle über ein Direktmandat. Die CDU holte 185 ihrer 200 Mandate direkt. Würde die Zahl der Wahlkreise deutlich reduziert, hätten die Unionsparteien also einiges zu verlieren. Die Direktmandate der anderen Parteien: SPD 59, AfD 3, Linke 3, Grüne 1, FDP 0.

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(dpa/rt)

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