Lateinamerika

Das fehlgeschlagene Attentat auf Cristina Fernández de Kirchner in Argentinien (Teil I)

Noch sind die Hintergründe des Attentatsversuchs auf die argentinische Vizepräsidentin von Ende letzter Woche nicht geklärt. Der Täter trägt an Armen und Händen Nazi-Tätowierungen. Angesichts der sich verschärfenden Krise in Argentinien könnte es sich um die Tat eines fanatisierten Einzelnen handeln, möglicherweise aber auch um ein Komplott.
Das fehlgeschlagene Attentat auf Cristina Fernández de Kirchner in Argentinien (Teil I)Quelle: RT

Eine Analyse von Maria Müller

Teil I

Teil II hier

Am vergangenen Donnerstagabend kehrte die Vizepräsidentin Argentiniens, Cristina Fernández, von einer Senatssitzung nach Hause zurück. Vor ihrem Wohnsitz begrüßte sie die Menge der dort ausharrenden Anhänger, die seit einigen Tagen ihre Straße bewachen. Die permanente Bürgerversammlung will die Vizepräsidentin und ihren Wohnsitz vor Übergriffen schützen.

Während Cristina F. dabei war, für ihre Anhänger Autogramme in ihr neues Buch zu schreiben, näherte sich ein Mann mit einer Pistole in der Hand und zielte aus wenigen Zentimetern Entfernung auf ihren Kopf. Doch der Schuss ging nicht los. Wie durch ein Wunder überlebte sie den Attentatsversuch.

Am Freitag versammelten sich Hunderttausende in zahlreichen Städten Argentiniens. Die größte Kundegebung fand in der Hauptstadt Buenos Aires auf der historischen "Plaza de Mayo" statt, wo sich auch die Nebenstraßen des großen Platzes mit Menschen füllten. Parteien, Gewerkschaften, Berufsverbände und gesellschaftliche Organisationen aller Couleur riefen zu Protesten auf und verurteilten das versuchte Attentat.

Präsident Alberto Fernández berief ein Treffen ein, um zum gesellschaftliche Dialog aufzurufen. "Wir müssen den Hass-Diskurs in den Medien stoppen, denn die Dinge, die gesagt werden, sind wirklich extrem," so Fernández. Die Leute sind schockiert. "Eine solche politische Gewalt hat es seit dem Ende der Diktatur in Argentinien nicht gegeben!", ist die überwiegende Meinung.

Regierungs- und Oppositionsparteien versammelten sich noch in derselben Nacht im Kongress zu einer gemeinsamen Erklärung und einem Gruppenfoto, um Einheit gegen die politische Gewalt zu demonstrieren. Doch am nächsten Tag zeigte sich kein einziger Oppositionsführer bei einer der öffentlichen Kundgebungen und Demonstrationen.

Am Freitag stand die Empörung über die Hass- und Fake-Kampagne in den Pressemedien im Mittelpunkt. Sie hatte sich in den letzten Wochen bis hin zu unverblümten Forderungen nach dem Tod von Regierungsvertretern gesteigert. Wobei sich einige Journalisten der großen Medien, Meinungsmacher in den sozialen Netzwerken und der eine oder andere Justizvertreter dabei als Scharfmacher profilierten.

Der Verband argentinischer Journalistenorganisationen (Adepa) wies indes alle Vorwürfe zurück und befand, es sei für das gesellschaftliche Klima gefährlich, die Arbeit von Journalisten mit dem Attentatsversuch in Verbindung zu bringen.

Leichensäcke, Guillotinen, Todeswünsche

Auch manche "Aktionen" der rechtslastigen Opposition, bei denen zum Beispiel schwarze Leichensäcke mit den Namen von Politikern vor dem Regierungssitz in Buenos Aires niedergelegt wurden, befeuerten das aufgeheizte Klima. Man sah auch Nachbildungen von Guillotinen, oder das Schattenbild einer gehängten Frau auf Kundgebungen von rechts. Das tägliche Gift der emotional aufgeheizten Verleumdungen aus den Radio- und Fernsehanstalten, die beim Publikum Wut auslösen und das Nachdenken verblassen lassen, zerstören auch in Argentinien die Grundlagen der Demokratie. Ein Großteil der Bevölkerung stellt nun den Mordversuch an Cristina F. in diesen aufgewühlten Kontext.

Es gibt zwei Hypothesen. Entweder der Täter ist ein von dieser aggressiven Welle mitgerissener Einzelakteur – oder er ist Teil einer größeren, geplanten Operation, deren Narrativ in den Vorgängen der vergangenen Monate aufgebaut wurde. Bisher gibt es erste Fragmente an polizeilichen und richterlichen Untersuchungen, die allerdings eher Fragen aufwerfen als Antworten geben. 

Was weiß man bis heute über den Täter?

Er heißt Fernando André Sabag Montiel, ist 35 Jahre alt, in Brasilien geboren und mit sechs Jahren nach Argentinien übergesiedelt. Er benutzte eine Pistole Bersa 32 mm, die nach polizeilicher Untersuchung bereits zuvor benutzt worden war. Der Täter soll sie bei einem Nachbarn entwendet haben, der 2021 verstarb. Gegenüber einem Freund habe er jedoch gesagt, er wolle "ein Schießeisen" in einem Vorort kaufen. In der Wohnung von Sabag fand die Polizei hundert Kugeln Munition. Der Beschuldigte verweigerte jede Aussage vor der Polizei und erhielt einen Pflichtverteidiger.

Sabag trägt an Armen und Händen Tätowierungen mit Nazi-Symbolen. Darunter die "schwarze Sonne" (mit Hakenkreuz-Strahlen), das eiserne Kreuz der deutschen Wehrmacht und der Hammer des germanischen Gottes Thor. Die schwarze Sonne ist am Ellenbogen angebracht, genauso wie bei den Mitgliedern der Asow-Kämpfer in der Ukraine. Das Internet propagiert die Nazi-Ideologie bis in weit entfernte Kontinente.

Auffällige Vorkommnisse

Sabag Montiel wurde vor der Tat zusammen mit seiner Freundin zweimal vom argentinischen Fernsehkanal Cronica TV interviewt. Dabei spielten beide die Rolle von zufällig befragten Passanten, die sich gegen politische Maßnahmen der Fernández-Regierung äußerten. Später soll er gesagt haben, alles sei gestellt gewesen und er habe Geld dafür erhalten. Wenn das zutrifft, dürfte ein politisch motivierter Kontakt zwischen dem Paar und dem TV-Sender bestanden haben. Am 5. September, vier Tage nach der Tat, wurde seine 23-jährige Freundin Brenda Uliarte in Buenos Aires festgenommen.

Am Freitagabend nach dem versuchten Anschlag hatte sie dem Fernsehkanal TELEFE ein Interview gegeben, worin sie den Täter als "unfähig, so etwas zu tun" bezeichnete. Wie kam dieser Kontakt mit der Presse so schnell zustande? Am Samstag konnte ein Freund von Sabag M. namens Mario im gleichen Fernsehkanal, TELEFE, ganz offen sagen:

"Ich glaube, er hatte vor sie zu töten. Leider hat er vorher nicht geübt."

Erneut wird die Nähe des Paares und des Freundes zu argentinischen TV-Medien deutlich. Dieser Mario wurde inzwischen von der Untersuchungsrichterin María Eugenia Capuchetti verhört und sagte als Zeuge aus.

Das Handy des Täters ist blockiert

Das Handy des Täters hat sich auf bisher ungeklärte Weise in den Händen der Polizei  "selbst blockiert", oder aber dafür wurde von außen interveniert. Spezialisten aus verschiedenen Behörden konnten dieses Problem nicht lösen, doch es steht bereits fest, dass bestimmte Vorsichtsmaßnahmen seitens der Polizeitechniker nicht eingehalten wurden. Dadurch könnten wichtige Daten definitiv verloren gehen. Gleichwohl sind ein Teil der Kontakte und Bilder des Täters über die SIM-Karte und die Speicherkarte abrufbar. Zudem wurde Kritik an der Untersuchungsrichterin laut: Sie hätte die besagten Polizeikräfte aufgrund vorheriger, unerklärlicher "Pannen" nicht mit der sicheren Verwahrung des Handys beauftragen dürfen.

 

Untätiger Polizeischutz von Cristina F.

Richterin und Staatsanwalt untersuchen auch die Frage, ob die zum Personenschutz der Vizepräsidentin eingesetzte Polizei im Augenblick der Attacke fahrlässig gehandelt hat. Die Polizei reagierte  nicht sofort nach dem Angriff, sondern ließ fünf Minuten verstreichen, ohne Cristina F. an einen sicheren Ort zu bringen. Der Täter wurde von den anwesenden Bürgern und nicht von der Polizei festgehalten, er konnte die Waffe zu Boden werfen, ohne dass die Polizei sie rasch aufgegriffen hätte. Später waren die Fingerabdrücke des Täters auf der Waffe laut der Kriminalpolizei nicht mehr zu identifizieren. Der festgenommene Angreifer verbrachte anschließend drei Stunden in einem Polizeiauto, bevor man ihn zur Ermittlungsbehörde der Bundespolizei brachte. Hat niemand nach seinem Verbleib gefragt?

Die Internet-Firma META/Facebook löschte das Profil

Die Internet-Firma META/Facebook löschte sofort nach Bekanntwerden des Attentatversuchs am Donnerstagabend das Instagram-Profil von Sabag Montiel, ohne sich zuvor mit den argentinischen Ermittlungsbehörden in Verbindung zu setzen, und ohne deren Aufklärungsinteressen zu berücksichtigen. Gegenüber der argentinischen Zeitung La Nación erklärte das Unternehmen des Mark Zuckerberg, es handele sich um eine

"regelmäßige Aktion, die proaktiv, durch Benutzermeldungen oder weil wir darauf aufmerksam werden, erkannt und markiert werden kann."

Laut der Zeitung habe META nicht erklärt, über welchen Weg es zu der Löschung kam. Man habe das Konto geschlossen, denn "wir erlauben keine Präsenz auf Facebook von Personen oder Organisationen, die eine gewalttätige Mission beanspruchen oder Gewalttaten begehen."

Wie konnte META so unmittelbar auf den Fall reagieren? Sucht und löscht man bei jedem Verbrechen auf der Welt sofort das Profil der Verdächtigen? Gibt es dafür eine extra Abteilung in der Firma? Und vor allem: Warum schreitet META nicht im Vorfeld von Gewalttaten ein um diese zu verhindern?  Warum toleriert META Accounts mit Nazi-Symbolen und Gewaltszenen, die dann plötzlich vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen werden müssen?

Es gibt noch viele ungeklärte Fragen, die von diesem schrecklichen Vorfall aufgeworfen werden. Die argentinische Gesellschaft durchlebt Zeiten schwerer wirtschaftlicher und sozialer Spannungen, die als fruchtbarer Boden für extreme, antidemokratische Entwicklungen genutzt werden – die tägliche Medienhetze ist das Werkzeug dafür. Dass manche hochgekochten Konflikte suggestiv auf Menschen wie Sabag Montiel einwirken, ist nicht auszuschließen. Er könnte jedoch auch Teil der gleichen Strategie sein, wie sie gegen ein progressives politisches Programm in Peru, Brasilien, Ecuador, Bolivien oder Venezuela eingesetzt wurde und weiterhin droht. Hier werden die Szenen des Drehbuchs in bekannter Manier von den Dichtern und Denkern des CIA und des Pentagon geschrieben.

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