Lateinamerika

Brasiliens Wahlkampf in der Endrunde – Lula weit vorne, Bolsonaro im Hintertreffen

Die brasilianischen Präsidentschaftswahlen gehen in die heiße Phase. Eine "Mitte-Links"-Koalition des ehemaligen Präsidenten Lula hat die besten Chancen, die Mehrheit zu erlangen. Einige Experten rechnen in diesem Fall jedoch mit einem Putschversuch von rechts.
Brasiliens Wahlkampf in der Endrunde – Lula weit vorne, Bolsonaro im HintertreffenQuelle: www.globallookpress.com © Cris Faga/Imago-Images

Eine Analyse von Maria Müller

Die kommenden Präsidentschaftswahlen in Brasilien finden am zweiten Oktober statt. Der frühere Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva (2003–2010) gilt als Favorit. Sein Konkurrent, der aktuelle Präsident Jair Bolsonaro, hat wenig Chancen auf einen Sieg. Geraldo Alckmin (PSB), der frühere Bürgermeister der Millionenstadt São Paulo, ist Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten Lulas. Er wird dem Zentrum zugerechnet und soll den Dialog mit den Mächtigen der brasilianischen Wirtschaft ermöglichen.

Lula da Silva wird von einer breiten Mitte-Links-Koalition aus neun Parteien unterstützt. Das sind die Arbeiterpartei (PT), die Sozialistische Partei Brasiliens (PSB), die Kommunistische Partei Brasiliens (PCB), die Partei "Sozialismus und Freiheit" (PSOL), die Grüne Partei (PV), sowie die Parteien "Das Netzwerk" und "Solidarität, Fortschritt, Handeln".

Dieses Bündnis mit Namen "Hoffnung Brasilien" soll das politische Kräfteverhältnis wiederherstellen, das vor dem parlamentarischen Putsch gegen Dilma Rousseff und der illegalen Verhaftung Lulas bestand.

Umfrageergebnisse unter den Wählern

In den letzten drei Umfragen des Instituts Datafolha hält Lula einen Stimmenanteil von 47 Prozent der Befragten und ist damit der Favorit unter den Kandidaten. Er liegt deutlich vor Bolsonaro, der von 29 auf 32 Prozent zulegte. Beide repräsentieren die zwei größten politischen Strömungen des Landes. Das Institut kalkuliert, dass Lula womöglich bereits im ersten Durchgang mit 51 Prozent gewinnen könnte, doch mit Sicherheit käme er in der zweiten Runde auf 54 Prozent. Die Umfrageagentur IPEC schätzt Lula auf 52 Prozent beim ersten Anlauf.

Das links-progressive Wahlprogramm

Das 21 Seiten starke Wahlprogramm von "Hoffnung Brasilien" enthält zentrale Themen. An erster Stelle sei die geplante internationale Positionierung Brasiliens genannt.

In der Außenpolitik vertritt Lulas Parteienkoalition die internationale Süd-Süd-Kooperation und engagiert sich für die regionale Integration. Sein früherer Außenminister Celso Amorim wird ihn in der internationalen Politk begleiten.

"Die Verteidigung unserer Souveränität ist die Verteidigung der Integration von Südamerika, Lateinamerika und der Karibik", betont der linke Präsidentschaftskandidat. Er weckt damit die Erinnerung an das "goldene Zeitalter" der engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit von überwiegend progressiven Regierungen in Südamerika. Diese hatte in den ersten 15 Jahren des neuen Jahrtausends zu einem stabilen Aufwärtstrend in der regionalen Entwicklung geführt. Nicht zu vergessen ist dabei auch die geopolitische Neutralität und Friedenspolitik der damaligen Regierungen, die ihren Kontinent 2014 feierlich zur "Friedenszone" erklärten.

Neutralität, Souveränität, Unabhängigkeit

Lula will in den geopolitischen Konflikten eine neutrale, unabhängige Position einnehmen. Die Bewegung der unabhängigen Staaten ist ein wichtiger Bezugsrahmen für seine Außenpolitik. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine hat diese Bewegung neue Impulse erhalten. Gleichzeitig will er die Zusammenarbeit Brasiliens in der internationalen Wirtschaftsunion der BRICS-Staaten vertiefen (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika). Das Land gehört zu den Gründernationen der BRICS, einer der großen Erfolge Lulas. Obwohl die USA immer noch ein wichtiger Handelspartner Brasiliens sind, nimmt China heute den ersten Platz ein. Er sagte:

"Die Vereinigten Staaten sind ein sehr wichtiger Partner für uns. Aber wir wollen (die USA) bitten, uns zu respektieren: Brasilien ist keine Kolonie, es ist ein großes Land, das die anderen mit Respekt behandeln müssen."

In diesem Sinne betonte er seine Absicht, "unsere politischen, wissenschaftlichen, geschäftlichen und sogar militärischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu erneuern".

Die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Europa

In Bezug auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Europa gibt es Themen, die laut Lula korrigiert werden müssen. So will er vor allem das Abkommens zwischen dem Mercosur und der Europäischen Union neu verhandeln. Der Freihandelsvertrag war zwar am 18. Juni 2019 mit einem großen Medienspektakel unterzeichnet worden, erlangte jedoch nie praktische Relevanz. Das Ziel sei nun, den Erhalt der brasilianischen Industrie und ihre Entwicklung zu gewährleisten, was der Vertrag, so wie er entworfen ist, nicht garantieren würde.

Pläne für die Wirtschaftspolitik

"Wir werden viele neue Arbeitsplätze schaffen", versprach Lula. Eine große Investition der öffentlichen Hand in Baumaßnahmen soll die Wirtschaft wieder ankurbeln. Lula hofft, dass der private Sektor sich dem verstärkt anschließt. Die heutige Wirtschaftslage erinnere ihn an die Zeiten, als er 2003 das erste Mal die Regierung übernommen hatte.

"Für mich ist das nicht neu, Brasilien mit einer hohen Inflationsrate zu übernehmen. Damals betrug sie zwölf Prozent. Heute steigen die Preise neuerlich an die zwölf Prozent", so der Präsidentschaftsanwärter.

Die Aufgabe ist enorm, zumal die brasilianische Industrie heute in geringerem Ausmaß qualitativ hochwertige Arbeitsplätze anbieten kann. Im Übrigen ist auch die aktuelle internationale Krisensituation mit der Situation Lateinamerikas bei seinem ersten Amtsantritt nicht zu vergleichen. 

Lulas erfolgreiche Sozialprogramme

Das Wiederbeleben der großen Sozialprogramme "Bolsa Família" (sinngemäß übersetzt "Familienbeihilfeprogramm") und "Fome Zero" (Null Hunger) ist innenpolitisch vorrangig. Lula hatte sie während seiner ersten Amtszeit (2003–2006) ins Leben gerufen. Er will sie nach einem Wahlsieg reformieren und ausweiten.

Beide Programmehatten die Armut von Millionen Menschen in Brasilien reduzieren können. Vor allem die Kinderarbeit und die Unterernährung von Kindern und Jugendlichen waren in diesen Jahren in großem Umfang beseitigt worden. Die Regierung Bolsonaro hat diese Programme danach weitgehend zurückgenommen. Heute leiden erneut 33 Millionen Menschen in Brasilien an Hunger und Unterernährung, gut 16 Prozent der Bevölkerung.

Die wirtschaftliche Triebkraft der Sozialprogramme

Die Sozialprogramme hatten zu Beginn der progressiven Ära in Lateinamerika als Motor gewirkt, um die extrem brachliegende Wirtschaft  wieder in Gang zu bringen. Sie hatten schnell Binnenkaufkraft und -nachfrage gesteigert. Dank ihrer wirtschaftlichen Wirkung war erneut eine nationale, diversifizierte Produktion entstanden – die geschlossenen Fabriken hatten wieder ihre Tore geöffnet. Dafür war Lulas erste Regierung 2003 Vorreiter gewesen, auch das ist sein Verdienst.  

Des Weiteren soll die Privatisierung von Staatsbetrieben (Petrobras, Eletrobrás und die brasilianische Post) verhindert bzw. rückgängig gemacht werden. Jair Bolsonaro verkaufte einen Großteil der Aktien des staatlichen Elektrizitätswerkes Eletrobrás im Juni dieses Jahres. Damit ist auch das Programm "Elektrizität für alle" (für die ärmeren Bevölkerungsschichten) gefährdet, das noch aus den Zeiten Lulas stammt.

Umweltpolitik – Schutz des Amazonasgebietes

Lula kritisiert die Umweltpolitik Bolsonaros, sie sei eine Katastrophe. Er will Umweltstraftaten stärker strafrechtlich verfolgen. Man erinnere sich an die riesigen, absichtlich gelegten Waldbrände 2019 in Brasilien, mit denen unter der Regierung Bolsonaro Tausende von Quadratkilometern Tropenwald in Ackerland für Agrarkonzerne umgewandelt wurden. Lula hingegen verspricht, das Amazonasgebiet zu schützen und vor allem dort den illegalen Bergbau zu bekämpfen, der mit seinen Chemikalien die Flüsse verseucht.

Agrarreform – die Bewegung der landlosen Bauern

"Hoffnung Brasilien" will zudem die seit Jahrzehnten von Tausenden landlosen Bauern geforderte Agrarreform nun endlich durchsetzen. Das Thema gehört zu den großen historischen Konflikten nicht nur in Brasilien, sondern in ganz Lateinamerika. "Das Land gehört denen, die es bebauen!" war schon zu Zeiten des antikolonialen Befreiungskampfes die Parole der ersten Stunde gewesen. Damals hatten einige Staatsgründer Lateinamerikas Land kostenlos verteilt – unter der Bedingung, dass es auch wirklich für die landwirtschaftliche Produktion genutzt wird.

In Brasilien kämpft die "Bewegung der Landlosen" schon seit Jahrzehnten vor allem mit Besetzungen ungenutzter Ländereien um eigenes Ackerland. Sie widmet sich in erster Linie der ökologischen Agrarproduktion und konnte beweisen, dass man ohne Monsanto erfolgreich gesunde Lebensmittel produzieren kann. Doch selbst unter den Regierungen von Lula und Rousseff gelang es der Landlosenbewegung nur in begrenztem Umfang, ihre Ziele erreichen.

Die Wahltaktik Bolsonaros

Zur Wahltaktik Bolsonaros gehörte es, Banken, Versicherungen, Industrielle und Agrarunternehmer zu bitten, von Lula Abstand zu nehmen. In Bezug auf die Armen geht er ungeniert auf Stimmenkauf. Er versprach ihnen einige mehrmonatige Geldgeschenke, jedoch nur für den Zeitraum des Wahlkampfes ab August bis Ende November. Damit sollen über 20 Millionen Menschen Brasiliens eine kurzfristige Nothilfe von 117 US-Dollar erhalten. Der Präsident will dafür 9,7 Milliarden Dollar ausgeben, die er den Armen während seiner Amtszeit vorenthielt. Die notleidende Bevölkerung macht in den Großstädten heute 24 Prozent aus.

Bolsonaros Gratwanderung am Rande der Legalität

Bolsonaro vollzieht eine gefährliche Gratwanderung am Rande der Legalität, um sich an der Macht zu halten. Wie das Lateinamerika-Fachportal amerika21.de berichtet, deute er immer wieder an, das Ergebnis der Stimmabgabe am 2. Oktober vielleicht nicht anzuerkennen, falls er verliert. Seine anschließenden Dementis bleiben ambivalent.

Er sagt, das elektronische Wahlsystem sei nicht vertrauenswürdig, weil ungenügend überprüfbar. Seine Anhänger haben ihn auf Wahlkundgebungen aufgefordert, den Kongress und den Obersten Bundesgerichtshof zu schließen und einen Putsch durchzuführen. In einem Fernsehinterview mit TV Globo wiederholte er seine Kritik am Wahlsystem und entschuldigte die radikalen Parolen seiner Anhänger mit dem Recht auf Meinungsfreiheit.

Inzwischen verdichtet sich das Bild einer radikalen Reaktion von rechts. Der Richter des Obersten Bundesgerichtes Brasiliens Alexandre de Moraes ordnete am 23. August Hausdurchsuchungen bei acht brasilianischen Multimillionären wegen des Verdachts auf Putschvorbereitungen an.

Sie hätten vermittels einer WhatsApp-Gruppe Pläne für einen Staatsstreich diskutiert, den sie im Falle eines Wahlsiegs Lulas in Gang setzen wollten. Richter Moraes ist auch Leiter des Obersten Wahlgerichts Brasiliens. Er ermittelt gegen Bolsonaro bereits wegen der Verbreitung von "Fake News" und des "Angriffs auf die Demokratie".

Nach Meinung politischer Beobachter ist das brasilianische Militär jedoch nicht dazu bereit, sich auf eine Machtübernahme einzulassen. Die gegenwärtige regionale und internationale Konjunktur sprechen gegen ein solches Abenteuer.

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