Meinung

Der Westen liefert nicht Panzer, sondern Illusionen

Der Patient Ukraine kann durch keinerlei westliche Waffenlieferungen gerettet werden. Was immer der Westen ins Gefecht wirft, wirkt höchstens wie das Lebenserhaltungssystem für einen als Transplantat-Spender vorgesehenen Hirntoten.
Der Westen liefert nicht Panzer, sondern Illusionen

Von Dagmar Henn

Man hat immer wieder den Eindruck, niemand in der NATO hätte gründlich nachgedacht, ehe man beschloss, einen Konflikt mit Russland vom Zaun zu brechen. Es wird zwar immer wieder behauptet, die eine oder andere Waffenlieferung würde jetzt das Blatt wenden; aber schon die Idee, mit Hilfe von NATO-Ausrüstung einen Stellvertreterkrieg führen zu lassen, ist so unsinnig, dass die ursprüngliche Vorstellung gewesen sein muss, mit Hilfe der in der Ukraine vorhandenen sowjetischen Waffen erfolgreich zu sein.

Die hatten nämlich unschlagbare Vorteile: Die vorhandenen Mannschaften waren ausgebildet, mit ihnen umzugehen, und zwar nicht nur mit den einzelnen Geräten, sondern auch im Gefecht der verbundenen Waffen, und es gab große Mengen davon. (Anfang 2022 wurden die Bestände an Kampfpanzern in der Ukraine auf über 2.000 geschätzt.) Die Fiktion von der Überlegenheit westlicher Rüstungsproduktion kann man getrost ignorieren. Aber das ursprüngliche Material ist unübersehbar bereits verloren, und wenn jetzt davon die Rede ist, die Ukraine mit westlichen Kampfpanzern auszustatten, dann geht es bestenfalls um Hunderte, nicht Tausende.

Die jetzt folgenden Erörterungen kratzen gerade mal an der Oberfläche der zusätzlichen Probleme. Wer sich genauer damit befassen will, sollte sich an die Videos von The New Atlas und die Texte von Andrei Martyanov halten.

Der militärisch-industrielle Komplex – Unterschiede wie Tag und Nacht

Einer der Punkte, an dem Russland einen massiven Vorteil hat, ist der militärisch-industrielle Komplex (MIK). Und zwar nicht nur in Bezug auf seine Größe, sondern weit mehr noch, weil es sich überwiegend um staatliche Unternehmen handelt. In der gesamten NATO dominieren dagegen Konzerne in Privatbesitz. Die Folge ist sehr simpel: Das staatliche Unternehmen soll, im Interesse seines Eigentümers, möglichst wirkungsvoll und kostengünstig eine gegebene Aufgabe lösen. Das private Unternehmen soll im Interesse seines Eigentümers möglichst viel Gewinn erwirtschaften.

Da im letzteren Fall Eigentümer und Nutzer nicht identisch sind, ist der Gebrauchswert des Produkts, das entsteht, weit weniger gesichert; sobald er mit dem Interesse der Gewinnerzielung kollidiert, siegt die Gewinnerzielung. Schließlich haben Konzerne, die groß genug sind, noch andere Mittel, ihre politische Kundschaft dazu zu bringen, ihr Produkt abzunehmen, als dessen Qualität.

In beiden Weltkriegen wurde dies von den beteiligten kapitalistischen Staaten soweit als Problem gesehen, dass der militärisch-industrielle Komplex zum Zwecke der Kriegsfähigkeit staatlicher Lenkung unterworfen wurde. Das hat die beteiligten Konzerne nicht daran gehindert, enorme Gewinne zu machen, aber der Gewinn wurde als entscheidender Steuerungsmechanismus verdrängt.

Allerdings hat sich in den Jahrzehnten seit dem Ende der Sowjetunion das Verhältnis zwischen der Politik und dem militärisch-industriellen Komplex, insbesondere dem größten innerhalb der NATO, dem der Vereinigten Staaten, weiter in Richtung des MIK verschoben. Heutige Politiker im Westen könnten es sich nicht einmal mehr vorstellen, in diese Konzerne entsprechend einzugreifen. Zum einen, weil viele von ihnen auf der Gehaltsliste dieser Unternehmen stehen. Und zum anderen, weil sie davon überzeugt sind, dass eine gewinngesteuerte Ökonomie immer effizienter sei; ein Argument, das beide Weltkriege gründlich widerlegen.

Russland hat diese Probleme nicht, weil die Kontrolle über den MIK nie aus der Hand gegeben wurde. Deshalb sind die Kosten für vergleichbare Produkte wesentlich niedriger, und es ist wesentlich einfacher, praktische Erfahrungen der Nutzer in die Entwicklung oder Weiterentwicklung einfließen zu lassen.

Mengen und Potenziale

Es ist schon vielfach und immer wieder erwähnt worden, dass die Mengen, die in die Ukraine geliefert werden, den Bedarf bei weitem nicht decken. Auch, dass eine Produktionserweiterung im Westen gar nicht in absehbarer Zeit erreicht werden kann; da denke man nur an die Aussage des Vorstandsvorsitzenden von Lockheed, man könne in ein paar Jahren 2.400 Javelins jährlich produzieren; oder an die Ausschreibung in den USA für die Produktion von 12.000 155mm-Granaten im Monat – die den augenblicklichen ukrainischen Verbrauch für maximal drei Tage decken würden. Das alles wurde bereits im April in einem Artikel des britischen Rusi-Instituts unter dem Titel "The Return of Industrial Warfare", die Rückkehr der industriellen Kriegführung, ausführlich behandelt.

Interessant ist allerdings noch die Frage, in welchem der NATO-Länder prinzipiell eine Ausweitung hin zu einer industriellen Rüstungsproduktion im erforderlichen Maßstab möglich wäre. Und genau an diesem Punkt hat sich der gesamte NATO/EU-Block ein weiteres Mal ins eigene Knie geschossen.

Das Land, das eigentlich die besten Voraussetzungen gehabt hätte, um die Rüstungsproduktion schnell auszuweiten, ist nämlich Deutschland. Weil nicht nur die Waffen selbst, sondern auch die für deren Produktion erforderlichen Maschinen hergestellt werden können und es eine große Zahl durch ihre Ausbildung vielfältig einsetzbarer Metallfacharbeiter gibt, die es für eine solche Produktionsausweitung ebenfalls braucht.

Dumm nur, dass, schon ehe Russland selbst auf den Gedanken gekommen wäre, die Energieversorgung abzudrehen, das ökonomische Ziel der USA, die europäische Industrie zu beerben, und die Hybris der EU den deutschen Zugang zu günstiger Energie beendet haben. Was selbstverständlich zumindest einige Teile der metallverarbeitenden Industrie ganz massiv trifft; insbesondere die Stahlproduktion. Am Anfang der Rüstungsproduktion stehen aber viele spezielle Stahllegierungen, die, wenn man eine Produktion schnell ausweiten wollte, vernünftigerweise annähernd in der Gegend erzeugt werden sollten, in der sie auch verarbeitet werden. Weil alles andere zusätzliche Zeit kostet und zusätzliche Verwundbarkeiten einbaut.

Hätte der westliche Block tatsächlich die Notwendigkeiten industrieller Kriegsführung im Blick, hätte nicht nur die Versorgung mit günstiger Energie erhalten werden müssen, bis Russland selbst die Konsequenz zieht, seine Feinde nicht mehr zu versorgen; mehr noch, die Verteilung der verbliebenen Ressourcen müsste sich vor allem danach richten, die Region funktionsfähig zu halten, die dieses Produktionspotenzial besitzt. Man hätte im Interesse dieser Produktion auch die Spekulation mit Erdgas und Öl unterbinden müssen, um um jeden Preis die industrielle Basis Europas zu erhalten, die gerade zerstört wird.

Die nun verbleibende Möglichkeit würde voraussetzen, dass sich nach einem Zusammenbruch der deutschen Automobilproduktion (für den nicht nur die Energiepreise, sondern auch die CO2-Flottenvorgaben der EU sorgen dürften) die freigesetzten Facharbeiter in großer Zahl willigst in die USA verfrachten lassen, um dort dann eine Ausweitung der Rüstungsproduktion zu ermöglichen. Bis sich das allerdings realisiert (sofern überhaupt) verginge noch mehr Zeit, mindestens einige Jahre. Von den logistischen Problemen, das dann in derart weiter Entfernung produzierte Material überhaupt bis nach Europa zu befördern, ganz zu schweigen. Sprich, die einzige realistische Option, die es jemals gegeben hätte, auch nur ausreichend Munition für die ukrainischen Truppen zu produzieren, hat der Westen selbst bereits eliminiert. Ohne Munition ist aber selbst der beste Panzer nur ein Haufen Schrott.

Normen, Normen, Normen

Ein weiteres Problem, das im NATO-Bereich besteht, sind die vielen unterschiedlichen Waffensysteme. Ein Teil dieses Problems geht schlicht auf die Tatsache zurück, dass es innerhalb dieses Bündnisses eben nicht nur die US-amerikanische Rüstungsindustrie gibt, sondern noch eine Reihe weiterer, die ebenfalls ein Stück des Kuchens wollen. Der deutsche Leopard und der US-amerikanische Abrams sind beide die Ergebnisse eines Versuchs der gemeinsamen Entwicklung eines Panzermodells, die dann letztlich scheiterte. Es gab und gibt immer wieder Fälle solcher Zusammenarbeit, wie beim Eurofighter. Aber es kollidieren schlicht zu viele Interessen – ökonomische wie politische – um tatsächlich die gesamte Produktion auf diese Weise zu vereinheitlichen.

Vereinheitlichung ist jedoch ein wichtiger Faktor. Historisch betrachtet hat das Militär sie immer vorangetrieben. Die NATO ist allerdings ein Bündnis, in dem drei unterschiedliche Maßsysteme existieren, das metrische, das britische und das amerikanische. Das ist dann kein Problem, wenn sich die Armee jedes NATO-Staates mit ihrer jeweiligen Ausrüstung auf den Weg macht, wohin und wozu auch immer. Aber sobald man anfängt, Ausrüstungen unterschiedlicher Herkunft zu mischen, kann das ein Problem werden. Und zwar bis hinunter zur letzten Schraube, die dann in einem Fall in Millimetern normiert ist und im anderen in Inches, mit der Konsequenz, dass nicht einmal die selben Schrauben genutzt werden können. Und wenn Großbritannien gepanzerte Fahrzeuge liefert, stellt sich auch noch die Frage, auf welcher Seite des Fahrzeugs der Fahrer sitzt...

Und das Problem, dass mit jedem einzelnen Fahrzeug, jedem größeren Geschütz gleich eine ganze passende Werkstatt mitgeliefert werden muss, wird durch eine weitere Tatsache noch verschärft: Seitdem nämlich in vielen westlichen Armeen diese Werkstätten ausgegliedert wurden, also nicht länger von den Armeen selbst betrieben werden, spült es zusätzliche Gewinne in die Taschen des MIK, wenn möglichst viele Reparaturen anfallen.

Man kennt solche Vertriebskonzepte beispielsweise von Tintenstrahldruckern. Der Drucker selbst ist spottbillig; die Herstellerfirma verdient vor allem an den Tintenpatronen. Weshalb oft Farbdrucker nicht einmal mehr schwarzweiß drucken, wenn die Farbpatrone leer ist. Im Falle der Drucker ändert sich das gerade, weil es zuletzt zu viele Nachschubprobleme bei den Patronen mit eingebauten Chips gab; aber um beim MIK eine solche Veränderung durchzusetzen, bedürfte es eines rigiden staatlichen Eingreifens. Und das ist nach dreißig Jahren neoliberaler Politik unmöglich.

Auch das ist ein Problem, das die russische Armee nicht hat. Wie man am zivilen Beispiel der Druckerpatronen sehen kann, ist die Logistik zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit eines Produktes ebenso wichtig wie das eigentliche Produkt. Doch selbst wenn das von der NATO an die Ukraine gelieferte Gerät nicht zu Reparaturzwecken bis nach Polen gekarrt werden müsste, bliebe diese Frage ein logistischer Alptraum.

Das Gefecht der verbundenen Waffen

Mit der Lieferung irgendeines Panzers ist noch gar nichts gewonnen. Diese Geräte müssen nicht nur gefahren werden können; die gesamte Ausrüstung, die Zielelektronik, Wärmebildkameras, Kommunikation und mehr umfasst, muss so gut beherrscht werden, dass das auch unter extremem Stress noch funktioniert. Das ist der Sinn des Drills beim Militär: so viele Abläufe wie möglich in körperlichen Bewegungsmustern speichern, damit sie auch unter Belastung nicht vergessen werden.

Um wieder ein Beispiel aus dem Alltagsleben zu bringen: Fast alle Staaten haben es inzwischen verboten, beim Fahren ein Handy zu halten. Warum? Weil das die eingespielte Reaktion unterbricht, die dafür erforderlich ist, ein Fahrzeug sicher zu fahren. Wenn im Fahrzeug vor einem das Bremslicht aufleuchtet, ist die eigene Reaktion darauf automatisch. Da gibt es keinen bewussten Denkprozess. Da leuchtet das Bremslicht, ich sollte also auch bremsen. Wenn irgendeine andere Tätigkeit Konzentration erfordert, funktioniert dieser Reflex nicht mehr, und die Reaktion verlangsamt sich.

Bis eine Mannschaft einen Leopard-Panzer so weit bedienen kann, dass Ziele mit der Kanone verlässlich getroffen werden, dauert es nicht Tage oder Wochen, sondern Monate. Dann ist dieser Panzer aber noch nicht mehr als eine rollende Kanone, also ein etwas größeres, schwereres Stück Artillerie. Um ihn wirklich wirkungsvoll einzusetzen, muss dieser eine Panzer mit allem um ihn herum kooperieren können. Mit anderen Panzern ebenso wie mit begleitender Infanterie. Und schlimmer noch: Das gesamte Konzept aller westlichen Armeen setzt auf Luftüberlegenheit. Das heißt, die Erwartung, dass eine Luftdeckung vorhanden ist, die etwa gegnerische Artillerie ausschalten kann, ist schon in die Konstruktionsüberlegungen eingeflossen. Aber diese Luftüberlegenheit gibt es in der Ukraine nicht.

Diese Koordination, die bis zur Einbindung in Rechnernetze mit aktuellen Satelliten- und Drohnendaten geht und die alle Waffenarten umfasst, nennt sich Gefecht der verbundenen Waffen, oder – in der Wiederkehr des ursprünglich deutschen Begriffs als Anglizismus – Operation verbundener Kräfte. Es versteht sich von selbst, dass auch hier weitere unzählige Abläufe liegen, die geübt werden müssen. Dabei geht es um weitere Monate, zumindest für den Panzerkommandeur. (Wobei es ganz günstig wäre, wenn auch der Fahrer so weit Übung in Zusammenarbeit hätte, dass er nicht beim Manövrieren die eigene Infanterie überfährt. Das war auf Videos aus der Ukraine schon öfter zu sehen.)

Sollten die Panzer, die augenblicklich im Gespräch sind, tatsächlich in die Ukraine geliefert werden, wäre die Ausbildung noch zusätzlich dadurch erschwert, dass es sich um viele verschiedene Fahrzeuge handelt. Selbst wenn man die britischen Challenger mal beiseite lässt, bei denen man ohnehin davon ausgehen kann, dass sie von britischen Söldnern bedient werden – nicht einmal Leopard 2 ist gleich Leopard 2; zwischen den unterschiedlichen Varianten liegen dreißig Jahre. Sodass jemand, der für einen Leopard 2A4 ausgebildet wurde, wie ihn Finnland liefern will, noch lange nicht einen Leopard 2A7 bedienen kann.

Eine einzelne Armee unvorbereitet mit derart unterschiedlichem Gerät auszustatten, ist so unsinnig, dass tatsächlich nur die Möglichkeit bleibt, die Besatzung mitzuliefern. Oder im anderen Falle eben keinen modernen Kampfpanzer zu liefern, sondern eine rollende Kanone, deren Besatzung mit viel Glück so lange überlebt, bis sie irgendwann im Stande ist, ein Ziel auch zu treffen. Nachdem aber alle heutigen Kampfpanzer der NATO aus Zeiten stammen, in denen der Einsatz kleiner Überwachungs- wie Angriffsdrohnen noch nicht üblich war, stehen die Chancen dafür denkbar schlecht.

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