Meinung

Der dreiste Selenskij - Doch sein Verhalten hat für Moskau eine Reihe von Vorteilen

Ist Wladimir Selenksij eine Marionette des Westens? Ja, definitiv. Oder ist er doch selbständig? Auch das stimmt. Wie das zusammenpasst, analysiert der russische Politkommentator Geworg Mirsajan.
Der dreiste Selenskij - Doch sein Verhalten hat für Moskau eine Reihe von VorteilenQuelle: www.globallookpress.com

Von Geworg Mirsajan

Wladimir Selenskij ist der Kontrolle des Westens entzogen. Der ehemalige Abgeordnete der Werchowna Rada, Oleg Tsarjew, schrieb kürzlich darüber. Einige russische Leser werden diese Sichtweise befremdlich finden. Schließlich weiß jeder, dass der ukrainische Präsident eine gehorsame Marionette des Westens ist. Dass das eigentliche Zentrum der Entscheidungsfindung in Kiew nicht die Bankowaja Straße, sondern die amerikanische Botschaft ist, die die Außen-, Innen- und Wirtschaftspolitik des ukrainischen Staates bestimmt. Dass Selenskij von westlichen Söldnern bewacht wird, die den Führer des Kiewer Regimes bei seinen Besuchen bei der Bevölkerung umgeben.

All dies ist wahr. Die USA und die EU versuchen tatsächlich, das ukrainische System zu kontrollieren. Der Westen finanziert die Ukraine und stellt sogar teilweise Personal für ihre Führung. Ohne US-amerikanische Hilfe würde das Kiewer Regime keinen Monat überleben. Allerdings können die Vereinigten Staaten Selenskij nicht vollständig kontrollieren.

Wenn der Westen beispielsweise versucht, Russland zu einer "sanften Kapitulation" zu zwingen, um einen Teil der russischen Elite zu "rettenden Bedingungen" in Form einer Rückkehr zu den Grenzen vom 23. Februar 2022 zu locken, spricht Selenskij beharrlich immer noch von den Grenzen von 1991. Das heißt, er fordert die Krim, deren Kapitulation eine "sanfte Kapitulation" in eine beschämende verwandeln würde. Außerdem sagt Selenskij dies nicht nur in seinen eigenen Palästen, sondern auch auf westlichen Plattformen – und keiner der westlichen Führer widerspricht ihm.

Natürlich können Experten sagen, dass Selenskij und der Westen das Spiel "guter Bulle, böser Bulle" spielen. Aber ein böser Bulle verhält sich dann auch schlecht gegenüber seinen westlichen Sponsoren und demütigt sie mit einer solchen Haltung. Wladimir Selenskij und sein Gefolge bitten nicht um Hilfe – sie fordern sie ein. Und sie fordern so dreist und erfolgreich (keiner der westlichen Führer hat den ukrainischen Präsidenten öffentlich gerügt), dass das europäische Magazin Politico Wladimir Selenskij sogar zum "Mann des Jahres" ernannte.

"Wenn er Waffen will, bekommt er sie, auch wenn das bedeutet, dass Deutschland seine langjährige Politik, keine Waffen zu verkaufen, aufgibt. Wenn er Sanktionen will, bekommt er sie, auch wenn das bedeutet, dass Europa eine Energiekrise und einen harten Winter mit exorbitanten Gaspreisen durchmachen muss", schreibt das Magazin. Und setzt Selenskijs Bild auf die Titelseite, auf dem er verächtlich auf die europäischen Leser herabblickt.

Ganz zu schweigen von dem Verhalten des ukrainischen Staatschefs im Lande selbst. Wie Oleg Tsarjew schreibt, ist es Selenskij (oder seinem Gefolge) gelungen, einen rigiden Repressionsapparat in der Ukraine zu organisieren und eine klare Machtvertikale aufzubauen. Es gibt keine Opposition, kein von Kiew unabhängiges Gericht, keine alternativen Führungspersönlichkeiten mit Machtressourcen (wie seinerzeit Innenminister Arsen Awakow oder Oligarch Igor Kolomoiski) und er hat volle Kontrolle über das Fernsehen. Die einzige Kraft, die ihm nicht gehorcht, sind die vom Westen geschaffenen Antikorruptionsorgane.

Sie haben ihn selbst hervorgebracht

Wie aber kommt es, dass der ukrainische Präsident so viele Freiräume hat? Hierfür gibt es mehrere Gründe.

Zum Teil war dies natürlich dem Stern zu verdanken, den Selenskij eingefangen hat – oder besser gesagt, dem Stern, den ihm der Westen auf einem Silbertablett präsentierte. Seit Februar 2022 hat sich die gesamte westliche Propagandamaschinerie der Heroisierung der Ukraine verschrieben – und zwar vor allem durch die Heroisierung des Bildes von Wladimir Selenskij. Und die Kampagne war so umfassend, dass sie nicht nur erfolgreich ein Schwarz-Weiß-Bild für das westliche Publikum entwarf, sondern auch Selenskijs Ambitionen als Schauspieler weckte. Er hat die auffälligste Rolle im Welttheater bekommen – und er spielt sie genau wie die Hauptrolle.

Natürlich wird eine freche Primadonna manchmal in die Schranken gewiesen – aber das Problem ist, dass niemand in der Truppe dazu in der Lage ist. Nicht, weil sie nicht die Macht dazu hätten, sondern weil das Publikum es nicht verstehen würde. Die westlichen Staats- und Regierungschefs, die mit Selenskijs trotzigem Verhalten unzufrieden sind, sind in ihre eigene Falle getappt: Die Mainstream-Medien können den ukrainischen Präsidenten nicht scharf und massiv kritisieren oder an den Pranger stellen. Weil dies das Schwarz-Weiß-Bild zerstören würde, das sie selbst für die Bevölkerung entworfen haben. Selenskij zu ersetzen, ist nur möglich, wenn er heldenhaft durch eine russische Rakete fällt – aber Moskau will auf den ukrainischen Präsidenten aus irgendeinem Grund nicht schießen. 

Doch nicht nur Selenskij ist selbstständig, sondern auch sein Umfeld. Tatsache ist, dass das ukrainische Regime und der Westen sehr unterschiedliche Interessen und Vorstellungen von der Zukunft haben. Die Vereinigten Staaten und ein Großteil Europas schätzen die Lage nüchtern ein und sind sich darüber im Klaren, dass sie nicht in der Lage sein werden, Moskau vollständig zu besiegen – jedenfalls nicht ohne das Risiko eines Atomkriegs. Das bedeutet, dass der Ukraine-Konflikt mit Verhandlungen und einer Neugestaltung der russisch-westlichen Beziehungen enden wird.

Jedes derartige Szenario ist jedoch für das Kiewer Regime inakzeptabel, da es darin seinen Handlungsspielraum und Selenskij seine Rolle verlieren würde. Jegliche Kompromissvereinbarungen mit Moskau würden auf Kosten der derzeitigen ukrainischen Regierung getroffen (siehe "Föderalisierung" und "Entnazifizierung"). Und selbst eine hypothetische Niederlage Russlands würde Selenskij überflüssig machen. Woraufhin die westliche Propagandamaschinerie ihn einfach vergessen und nach einer Weile durch eine andere, dem Westen gefügigere Figur ersetzen würde. Einfach ausgedrückt: Ein "Friedenspräsident", der für die Überwachung der milliardenschweren Investitionen des Westens in den Wiederaufbau der Ukraine bzw. den Verkauf der ukrainischen Wirtschaft zuständig sein wird.

Selenskij und sein Gefolge spielen also ihr eigenes Spiel, indem sie sich mit den bedingten "Gemäßigten" im Westen anlegen – und sie tun dies nicht allein. Das ukrainische Regime stützt sich auf seine westlichen Unterstützer – all diejenigen, die keine Kompromisse zwischen Moskau, Berlin und Washington brauchen. Auf das Vereinigte Königreich, das daran interessiert ist, Europa so weit wie möglich zu schwächen. Auf die Polen, die an einer Schwächung des vereinten Europas insgesamt und Deutschlands im Besonderen interessiert sind. Auf die Balten, die jeden antirussischen Aufruhr (auch einen Hungerstreik) befürworten. Und schließlich ist da noch der Teil des US-amerikanischen Establishments, der ebenfalls einen Kampf mit Russland bis zum bitteren Ende befürwortet und keine Angst vor einem Atomkrieg hat. Einfach ausgedrückt: Jene Politiker, die keinen Frieden wollen, wenn Amerika nicht eine wichtige Rolle dabei spielt.

Was Russland betrifft, so hat Selenskijs Verhalten eine Reihe von Vorteilen für Moskau. Angefangen bei Argumenten für seine Partner im Osten (die auf konstruktiven Verhandlungen bestehen, welche aufgrund der radikalen Forderungen Kiews und der westlichen Formel "keine Verhandlungen über die Ukraine ohne die Ukraine" formal unmöglich sind). Bis hin zu der zunehmenden Ermüdung der westlichen Staats- und Regierungschefs hinsichtlich des ukrainischen Verhaltens. Ein Überdruss, der irgendwann in Aggression gegenüber Kiew umschlagen muss. Also soll Selenskij ruhig weiter sein Spiel spielen.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.

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