Meinung

Das Infektionsschutzgesetz im Bundestag – ein Blick in den Abgrund

Manche Parlamentssitzungen nennt man "Sternstunden der Demokratie". Was gestern im Bundestag bei der Debatte zum Infektionsschutzgesetz ablief, könnte man als das Gegenteil bezeichnen; die Demokratie in einer dicht bewölkten Neumondnacht.
Das Infektionsschutzgesetz im Bundestag – ein Blick in den AbgrundQuelle: www.globallookpress.com © Frederic Kern via www.imago-imag

von Dagmar Henn

"Corona kennt keine Ländergrenzen und keine Parteigrenzen." Dieser Satz fiel gestern gleich im ersten Redebeitrag zur Debatte der neuesten Änderungen im Infektionsschutzgesetz, und er kam aus dem Mund der Sozialdemokratin Sabine Dittmer. Mit seiner Anspielung auf "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche" gab er gleich den Ton der Debatte vor. Bedauerlicherweise kamen die einzigen oppositionellen Äußerungen von der AfD.

Neben der bereits erwarteten Einführung von 3G im Nahverkehr – irrwitzig, wie diese Maßnahme ist – gab es ein kleines Detail, das erkennen ließ, wie schwach begründet all das gestern Beschlossene tatsächlich ist. Das Infektionsschutzgesetz sah eigentlich vor, dass eine neutrale Bewertung der Corona-Maßnahmen erfolgen solle. Bis zum 31.12. dieses Jahres sollte sie der Regierung, bis 31.03. kommenden Jahres dem Parlament vorliegen. Diese Bewertung würde zumindest einmal ermöglichen, die Sinnhaftigkeit der einzelnen Maßnahmen realistisch zu betrachten. Unbemerkt änderten die Ampler dieses Datum. Jetzt soll die Bewertung erst ein halbes Jahr später vorgelegt werden.

Nun lassen sich solche Dinge nicht vom einen Tag auf den anderen erstellen – wir haben bereits Mitte November und der Großteil der für die Evaluierung erforderlichen Daten dürfte längst vorliegen. Tatsächlich wäre es ein Gebot der Vernunft gewesen, erst einmal nachzufragen, ob es denn bereits Aussagen zur Wirksamkeit der in diesem Frühjahr getroffenen Maßnahmen gibt, ehe im Bundestag über ein neues Paket entschieden wird.

Geschehen ist das Gegenteil, es werden weitere und andere Maßnahmen beschlossen und die (dann natürlich auch der Öffentlichkeit zugängliche) Evaluierung erfolgt erst frühestens Mitte nächsten Jahres. Worauf deutet das hin? Würden die vorliegenden Daten die Maßnahmen stützen, dann wäre die Auswertung nicht verschoben worden. Oder andersherum – dass sie verschoben wird, ist ein starkes Indiz dafür, dass einige der jetzt beschlossenen Maßnahmen sich als nutzlos bis unsinnig erwiesen haben.

Aber das ist erst einmal Spekulation. Keine Spekulation ist jedoch, dass die Behauptung, Kinder seien eine "vulnerable Gruppe" hanebüchener Unsinn ist, auch wenn mehrere Redner sie wiederholt haben. Kindern passiert im Falle einer Erkrankung an COVID-19 weit überwiegend – nichts. Was ihnen hingegen nachweislich schadet, sind Kontaktbegrenzungen, Maskentragen und die allgemeine Hysterie. Davor allerdings wollten sie die meisten Abgeordneten nicht schützen.

Nur zur Vollständigkeit: Es gab Scheingefechte zwischen CDU/CSU und den Amplern bezüglich der "epidemischen Notlage." Man warf sich gegenseitig vor, die Maßnahmen auf der falschen Rechtsgrundlage verhängen zu wollen oder sie nicht scharf genug zu gestalten. Die Einleitung der Gesetzesvorlage enthält aber folgende Formulierung: "Eine Entscheidung durch die Landesparlamente erscheint angesichts der geringeren Eingriffstiefe der zukünftig erforderlichen präventiven Maßnahmen im Vergleich zum bisherigen Katalog des § 28a Absatz 1 IfSG nicht mehr geboten." Der einzige Unterschied zwischen dem jetzigen und dem künftigen Corona-Notstand besteht also darin, dass die Landesregierungen künftig ihre Maßnahmen per Verordnung verhängen dürfen, ohne Einbeziehung des Landesparlaments. Ob nun aber auf Bundesebene oder auf Länderebene per Verordnung massiv in Grundrechte eingegriffen wird, ändert nichts am Ausnahmezustand.

Die Begründung für die weitere Verfinsterung der deutschen Verfassungslage ist so banal und falsch, wie sie es schon im letzten Frühjahr war. So die Version der Abgeordneten Dittmer, die mit leichten Variationen mehrfach zu hören war: "Die Coronasituation in Deutschland ist äußerst schwierig. 65.000 Neuinfektionen, volllaufende Intensivstationen, in manchen Regionen müssen COVID-19-Patientinnen und -Patienten in andere Häuser verlegt werden, planbare Operationen werden abgesagt. Die Belastung für das medizinische und pflegerische Personal ist dramatisch."

Es ist ein Armutszeugnis für die politische Landschaft dieser Republik, dass ein Argument, das schon einmal falsch war und (nicht nur) durch den Bundesrechnungshof widerlegt wurde – nämlich die Behauptung, Corona würde die Kliniken überlasten –, ohne die geringste Schamröte im Gesicht erneut vorgebracht und von den Medien auch kreuzbrav weiterverbreitet wird. Dietmar Bartsch, der für Die Linke sprach, rang sich an diesem – aber nur an diesem – Punkt zu etwas durch, das ansatzweise einem Widerspruch ähnelte: "Zwischen dem zweiten Quartal 2019 und dem zweiten Quartal 2021 hat sich der Bruttolohn des Pflegepersonals in den Kliniken um sage und schreibe 1,50 Euro und in der Altenpflege sogar nur um 1,31 Euro in der Stunde erhöht. Kein Wunder, dass die Leute gehen." Das war dann aber schon das höchste der Gefühle, denn bei den weiteren beschäftigtenfeindlichen Maßnahmen konnte sich Die Linke nicht zu einer Gegenposition durchringen.

Eine klare Aussage kam da nur von der AfD. "Es wurden im vergangenen Jahr Krankenhäuser geschlossen, mehr als 4.000 Intensivbetten abgebaut, in Sachsen nahezu 300, und es hat sich noch immer niemand um personellen Nachwuchs im Pflegebereich bemüht. Herr Spahn, warum haben Sie 4.000 Betten abgebaut?" Das kam von Tino Chrupalla, und später setzte sein Parteikollege Martin Sichert nach: "Obwohl gestern 1.400 Intensivbetten weniger belegt waren als Ende April, reden wir heute über weitgehende Ermächtigungen der Regierungen. Anstatt Kinder und Ungeimpfte mit dem Infektionsschutzgesetz zu gängeln, müssen wir endlich die Attraktivität der Pflege massiv steigern. Das ist die dringlichste Aufgabe in dieser Legislaturperiode." Ja, sogar die Interessen der Beschäftigten im Gesundheitswesen muss jetzt die AfD wahrnehmen, weil Die Linke zu sehr mit Ja-Sagen beschäftigt ist.

Noch schlimmer verlief das bei der arbeiterfeindlichsten Maßnahme, der Einführung von 3G im Nahverkehr, die eine faktische Aussperrung Ungeimpfter ohne Kfz bedeutet. Man muss sich wirklich ansehen, mit welch triumphalem Ausdruck der Sozialdemokrat Johannes Fechner diese Maßnahme vortrug, als könnte ihm nichts Schöneres widerfahren, als widerspenstigen Niedriglöhnern mal zu zeigen, wo der Hammer hängt.

"Wir schaffen eine 3G-Pflicht für den Arbeitsplatz – das ist eine weitreichende Maßnahme, weil jetzt jeder, der ungeimpft ist und sich nicht testen lässt, Lohneinbußen riskiert –, und wir schaffen die gleiche Regelung auch für Busse und Bahnen. Jeder, der jetzt ungeimpft Bahn fährt und keinen Testnachweis dabeihat, wird aus der Bahn geworfen, und dem droht auch noch ein saftiges Bußgeld."

An diesem Punkt wäre es jetzt wirklich angebracht gewesen, dass Die Linke wenigstens mal nachfragt, wie das bitte gehen soll, weil selbst der Gutwilligste erst einmal zum Testen kommen müsste. Aber nein, selbst diese einfache Frage überließ man der AfD.

Es war Norbert Kleinwächter, der diese dringend nötigen Sätze sagte.

"Ich habe eine ganz praktische Frage: Wie sollen das Menschen machen, die am Montagmorgen mit Bus oder Bahn – Sie wollen doch klimafreundlich sein – zur Arbeit wollen, (Zurufe von der SPD: Impfen!), zum Arzt wollen, zum Einkaufen wollen und Busse und Bahnen, ÖPNV, nicht benutzen können, weil sie ja getestet sein müssen, was sie aber nicht sein können in ihrem Ort, und weil Sie durch Ihre Gesetzgebung und durch Ihre Verordnungsgebung auch das eigene Zertifikat nicht anerkennen? Ich frage Sie deutlich, Herr Dr. Fechner: Wie sollen das die Leute machen? Oder wollen Sie die zu Hause einsperren? Und sind Sie ernsthaft der Meinung, dass das Herauswerfen Ungeimpfter aus der Bahn und aus dem Bus keine negativeren Auswirkungen hat, als diese potenzielle Schutzmaßnahme tatsächlich nützt?"

Die einzige konkrete Antwort, die Fechner auf diese Frage gab, lautete, es seien "jetzt in der Tat die Länder gefragt, überall Testangebote zu machen, und das wird auch kommen". Klar, die Länder werden jetzt an jede Haltestelle Landesbedienstete stellen, die Tests bereithalten. Fechner dürfte das selber nicht glauben.

So ist der Stand in der deutschen Politik: eine der zwei Parteien, die aus der einstmals großen deutschen Arbeiterbewegung stammen, vertritt mit Vehemenz eine zutiefst arbeiterfeindliche Maßnahme, deren Kern die erzwungene Unterwerfung durch Entzug der Lebensgrundlage ist, und die zweite hält dazu brav die Klappe. Und einer Abspaltung der bürgerlichen Großpartei bleibt es überlassen, den eigentlichen Charakter dieser Maßnahme zu benennen. Vom Grab Wilhelm Liebknechts aus hätte man vermutlich eine ganze Großstadt beleuchten können, so schnell müssen die Gebeine rotiert haben.

So weit, dass auch nur irgendjemand benannt hätte, dass das, was Fechner vortrug, keine Art sei, wie erwachsene Menschen miteinander umgehen sollten, ist es gar nicht gekommen. Welche Arroganz und welche Menschenverachtung aus diesem Vortrag troff! Auch wenn das nach Wolfgang Clement und seiner widerlichen Hetze gegen Arme nicht mehr wirklich überraschen sollte – dieser Auftritt, gekoppelt mit den ähnlich scheußlichen Aussagen des Sozialdemokraten Hubertus Heil, ermöglichte einen ersten Blick auf das, was von der nächsten Bundesregierung sozial zu erwarten ist: Demütigung, Strafe und Verachtung.

Wie das volkswirtschaftliche Experiment, einen Teil der Arbeitskräfte blind vom Arbeitsprozess auszuschießen, enden wird, werden wir ja erleben dürfen. So irrwitzig diese Maßnahme ist – die Hoffnung, dass irgendein Gericht da zur Vernunft ruft, wird man sich nicht zu machen brauchen. Eigentlich müssten jetzt die Gewerkschaften dazu aufrufen, dass Geimpfte und Ungeimpfte gemeinsam diesen Angriff auf ihre Rechte abwehren. Aber solche Gewerkschaften haben wir nicht. So bleibt von der gestrigen Debatte und den beschlossenen Maßnahmen nur der Eindruck, dass selbst das Recht auf das schiere Dasein nicht mehr sicher ist.

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