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"Heilung durch Pädophilie" – Wie sich der Berliner Senat zum Komplizen von Kindesmissbrauch machte

Es sollte ein "Experiment" sein: Der Sexualwissenschaftler Helmut Kentler vermittelte ab den 1970ern bis in die 2000er Jahre Kinder, die als besonders "schwere Fälle" galten, bewusst an zum Teil vorbestrafte pädophile Pflegeväter. Mit Unterstützung des Berliner Senats.
"Heilung durch Pädophilie" – Wie sich der Berliner Senat zum Komplizen von Kindesmissbrauch machteQuelle: www.globallookpress.com

Sandra Scheeres, Berliner Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, und das Wissenschaftsteam der Universität Hildesheim präsentierten am Dienstag den Abschlussbericht der Universität zu den jahrzehntelangen Umtrieben des Psychologen und Sexualwissenschaftlers Helmut Kentler in der Berliner öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe.

Kentler hatte in einem, wie er es nannte, "Experiment" von Ende der 1960er-bis zum Beginn der 2000er-Jahre eine Initiative zur Einrichtung von Pflegestellen bei pädophilen, auch wegen Sexualdelikten vorbestraften Männern vorangetrieben. Der Sexualwissenschaftler war überzeugt davon, dass er mit der Initiative den Kindern sogar Gutes tat. In einem Vorwort zu der Broschüre "Zeig mal!" schreibt Kentler zum Thema sexuelle Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen:

Werden solche Beziehungen von der Umwelt nicht diskriminiert, dann sind um so eher positive Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung zu erwarten, je mehr sich der Ältere für den Jüngeren verantwortlich fühlt.

Kentler warnte Eltern sogar davor, selbst bei unfreiwilligen sexuellen Kontakten von Kindern mit Erwachsenen die Behörden einzuschalten. So schreibt er in dem Buch "Eltern lernen Sexualerziehung" aus dem Jahr 1975:

Am verkehrtesten wäre es jetzt, wenn die Eltern die Nerven verlieren, in Panik geraten und gleich zur Polizei laufen würden.

Und weiter: Wenn der Erwachsene rücksichtsvoll und zärtlich gewesen sei, könne das Kind den Sexualkontakt mit ihm sogar genossen haben. In dem Buch "Sexualerziehung" schreibt Kentler auch:

Frühe Koituserfahrungen seien sinnvoll, denn koituserfahrene Jugendliche "fordern eine eigenständige Welt der Teenager und lehnen die Normen der Erwachsenen häufiger ab".

Dieser Mann also durfte Findelkinder und Straßenkinder aus Westberlin (sogenannte "Trebegänger") jahrzehntelang an "Pflegestellen" vergeben. Bei der am Dienstag präsentierten Studie handelt es sich nach dem Gutachten des Göttinger Instituts für Demokratieforschung von 2016 um das zweite Forschungsprojekt zum Fall Kentler, das von Scheeres initiiert und von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie finanziell gefördert wurde.

Berliner Senat übernimmt Verantwortung für Leid

In der Hildesheimer Studie konnten erstmals auch Aussagen und Erfahrungen von insgesamt drei Betroffenen berücksichtigt werden, die als Kinder und Jugendliche Übergriffe und massive sexualisierte Gewalt durch Pflegeväter erleiden mussten. Scheeres erklärte dazu:

"Der Kentler-Skandal reicht lange in die Vergangenheit zurück und ist für die Betroffenen doch nie vorbei. Was Kindern und Jugendlichen damals angetan wurde, ist zutiefst erschütternd. Mein besonderer Dank gilt den Betroffenen, die sich an der Aufarbeitung beteiligt haben. Der neue Ergebnisbericht liefert ein klareres und umfassenderes Bild von den Vorgängen. Er fördert neue Erkenntnisse zu Kentlers Rolle, zu den Strukturen und Verfahren der damaligen Zeit und zu den Verantwortlichkeiten zutage. Er entlarvt Kentlers Rede von einem Experiment der Erziehungs- und Bildungsreform als beschönigende Darstellung des sexuellen Missbrauchs von Pflegekindern."

Die Senatorin betonte, dass das Land Berlin die Verantwortung für das Leid übernehme, das Schutzbefohlenen in öffentlicher Verantwortung angetan wurde. Mit dem neuen Wissen seien den Betroffenen Gespräche über eine finanzielle Anerkennung ihres Leids angeboten worden, auch wenn die Taten mittlerweile verjährt seien. Das Land Berlin werde sich für die weitere Aufarbeitung einsetzen, insbesondere mit Blick auf die deutlichen Hinweise auf bundesweite Zusammenhänge.

Darüber hinaus werde geprüft, welche Lehren für die heutige Pflegekinderhilfe in Berlin zu ziehen seien. Hierfür sei bereits eine Studie zur aktuellen bezirklichen und gesamtstädtischen Struktur der Pflegekinderhilfe in Auftrag gegeben worden.

Der Abschlussbericht der Universität Hildesheim belegt, dass Kentler auf verschiedenen Ebenen – auf der Ebene der Senatsverwaltung wie auf der Ebene der Bezirksämter – agierte, eingriff und steuerte. Der Sexualwissenschaftler war von 1966 bis 1974 Abteilungsleiter am Pädagogischen Zentrum Berlin, einer nachgeordneten Dienststelle der Senatsbildungsverwaltung, und später Professor für Sozialpädagogik an der Universität Hannover. Er trat ebenfalls als Gutachter in Missbrauchsprozessen auf. Über die von ihm bis dahin bearbeiteten 30 Fälle sagte er 1997:

"Ich bin sehr stolz darauf, dass bisher alle Fälle, in denen ich tätig geworden bin, mit Einstellungen der Verfahren oder sogar Freisprüchen beendet worden sind."

Das "Experiment" des Grauens

Das Wissenschaftsteam aus Hildesheim wertete auch die Akte einer Pflegestelle aus, in der zwei Betroffene von Ende der 1980er- bzw. Anfang der 1990er-Jahre bis Anfang 2000 untergebracht waren und die insgesamt 30 Jahre lang bestand. Aus ihr geht hervor, dass Kentler maßgeblichen Einfluss auf Entscheidungen des Jugendamts ausübte und dabei seine bis zu seinem Tod 2008 hohe Reputation nutzte.

Das von Kentler als angeblich reformorientiertes Experiment angepriesene Vorgehen war laut dem Bericht bewusst irreführend. Kentlers Initiative sei nicht als reformorientierter Ansatz der 1970er-Jahre für Straßenjugendliche zu sehen. Es handele sich stattdessen um Kindesmissbrauch und Kindeswohlgefährdung in der öffentlichen Verantwortung der Jugendwohlfahrt respektive der Kinder- und Jugendhilfe, so der Bericht.

Anders als heute seien zu Kentlers Zeiten Pflegestellen auch in direkter Zuständigkeit des Landesjugendamts und damit der Senatsverwaltung geführt worden, wie weiter in dem Bericht ausgeführt wird. Demnach seien ab den 1970er-Jahren durch das Landesjugendamt und die Bezirksjugendämter Pflegestellen in Westdeutschland bei alleinstehenden Männern eingerichtet worden, die pädophile Positionen akzeptiert, gestützt oder auch praktiziert haben. Im Zuge der Aufarbeitung habe sich ein weiterer Betroffener bei der Universität Hildesheim gemeldet, der als Jugendlicher in einer dieser Pflegestellen untergebracht war und von Grenzverletzungen und Übergriffen berichtete.

Aufgrund der Schilderungen dieses Betroffenen, von Zeitzeugengesprächen und der Akten geht das Wissenschaftsteam aus Hildesheim davon aus, dass es seit den späten 1960er-Jahren ein Netzwerk in den wissenschaftlichen pädagogischen Einrichtungen in der für Jugend zuständigen Senatsverwaltung und in einzelnen Berliner Bezirksjugendämtern gab, in dem pädophile Positionen akzeptiert und verteidigt wurden.

Besonders ins Auge sticht der Fall des "Pflegevaters" Fritz H., der mindestens zehn Kinder in seiner Obhut hatte – auch ein mehrfach schwerbehindertes Kind, das in seiner Obhut gestorben sein soll. Drei seiner Opfer hatten sich den Hildesheimer Forschern anvertraut. Die Hinweise auf Kindeswohlgefährdung durch die damaligen Pflegeeltern waren von den Jugendämtern jahrelang ignoriert worden. Die Mitarbeiter der Institutionen sollen den pädophilen Pflegevater sogar noch verteidigt haben. Auch die Bezirksämter antworteten nicht auf Briefe der Opfer, die von Übergriffen und kinderpornografischem Material berichteten.

Weiteren Aufklärungsbedarf gibt es auch bezüglich der direkten Verbindungen des Pädagogischen Zentrums zur Odenwaldschule, wo Gerold Becker, der frühere Leiter des Internats, seine Schüler systematisch missbrauchte und bis zur Aufdeckung ebenfalls hohes Ansehen genoss. Die Forscher forderten die Jugend- und Familienministerkonferenz auf, eine Aufarbeitung der Kindeswohlgefährdungen und der sexualisierten Gewalt im Pflegekinderwesen und bei der Heimerziehung zu beginnen.

Auch die Fachgesellschaften der Erziehungswissenschaft und Psychologie, wissenschaftliche Einrichtungen und deren Gutachten müssten sich fragen lassen, inwiefern sie etwa durch Gutachten dazu beitrugen, Kindeswohlgefährdungen zu verdecken.

Der größte Skandal dürfte jedoch sein, dass es bis 2016 dauerte, bis sich die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie der Sache annahm.

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